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1476 - Murten bebt

sibyllesteger

Aktualisiert: 16. Juli 2024

Wir schreiben das Jahr 2014. Hunderte von Menschen haben sich auf einem Ackerfeld über Murten eingefunden, um die Verwandlung eines sonst lauschigen Plätzchens in ein Schlachtfeld mitzuverfolgen. Was die Menschenmasse zu dem Zeitpunkt noch nicht weiss: Das Freilichttheater, welches die Schlacht um Murten aus vergangener Zeit dokumentiert, entpuppt sich zu einem Spektakel der Sonderklasse. Im Zentrum: Ein auf den ersten Blick unfairer Kampf zwischen einem erfolgsgekrönten Heer und einer Truppe, bestehend aus einfachen Bauern und Schmieden. Am damaligen Originalschauplatz wird mit farbenprächtigen Kostümen, Witz und Melancholie der Kampf um Freiheit zwischen Adrian von Bubenberg und Karl dem Kühnen von Burgund in Szene gesetzt. Die atemberaubende Aussicht über Stadt und See ist dabei nur noch das Tüpfchen auf dem I. Es lässt sich nur schwer entscheiden, welchen der Charaktere man am meisten in sein Herz geschlossen hat. Ob den charismatischen von Bubenberg, den machtbesessenen Herzog, das blonde Engelchen mit der lieblichen Gesangsstimme, den barbarischen Grafen oder gar den zotteligen, alten Berner, welcher unter seinem schalldichten Helm um ein Haar die Angreifer verpasst. Es gäbe noch viele Akteure aufzuzählen, deren Leidenschaft für die Bühne scheinbar nach dem Motto „jetzt erste recht“ um so mehr auszubrechen scheint, als der Regen sich (passend zum traurigen Ereignis) ab der zweiten Halbzeit unerbittlich auf die Bühne ergiesst.
 
Ohne auch nur mit der Wimper zu Zucken oder gar an Elan und Ausdruckskraft zu verlieren, setzt die Crew ihre Mission fort, als ginge es an diesem Abend tatsächlich um die Frage von sein oder nicht sein. Der Regen verstärkt sich, die Kleider der Künstler triefen, die Haare tropfen, der Wind peitscht ihnen mit voller Kraft ins Gesicht. Und doch, sorgfältig und eifrig auf diese Premiere hingearbeitet, stehen die Schauspieler im Wind, als gäbe es kein Morgen mehr. Und als in mitten des Geschehens der Adrian von Bubenberg noch dazu, zu seiner heroischen Motivationsrede an seine Leute ansetzt, pendle ich nur noch zwischen Wasserscheue und 1A-Körperbeherrschung, dass ich nicht aus Reihe 2 Platz 56 aufspringe und mich der Truppe mit erhobenem Schwert vor lauter Euphorie anschliesse. Ein wahrhaftig geballter Moment an Professionalität, Kunst und Leidenschaft, der sich da vor den Augen der Zuschauer abspielt. Eine Leidenschaft für eine Aufgabe, welche einen unwillkürlich an den Ursprungsgedanken der Eidgenossen zurückdenken lässt. An eine Zeit, in welcher die Kantone noch mit Herz und Blut für einander eingestanden und für ihren Traum von Freiheit gemeinsam bis ans Äusserste gegangen sind. Eine Geschichte, wie man sie sich in Zeiten von wutentbrannten Ausschreitungen bei Basel-Zürich-Matches, Wochenendeinkäufen im nahe gelegenen Ausland und parteiübergreifenden Angriffeleien in der Arena, derzeit kaum mehr vorstellen kann oder sich sogar wieder herbeiwünscht. So oder so, eine zum Denken anregende Vorstellung über Durchhaltewille, Einheit und Passion im wahrsten Sinne der Worte.
 
Der Regen strömt unaufhörlich. Die Lage spitzt sich zu. Und als die Schlacht sich auf ihrem Höhepunkt befindet und die Schwerter und Speere gewetzt werden, zeigt sich dem Publikum in der Tat ein „grosses Kino“. Besser könnte man dies mit 4D-Spezialeffekts und den nassen Socken der Zuschauer in der 1. Reihe vor keiner Grossleinwand finden. Die Bühne mit den weit über 100 Adels- und Pöbels-Leuten bebt… und die Tribüne tut es ihr gleich. Ein schier nicht enden wollender, tosender Applaus schallt den Künstlern entgegen und ein klares standing ovation für die sagenhafte Inszenierung beenden diesen Abend. Und so brach die Masse von den Feldern vor Murten wieder auf. Zwar nicht edel zu Pferd, aber mit ihren Opeln, Audis und Peugeots, machten sie sich auf ihren Heimweg mit der ausstehenden Frage im Gemüt: Was wäre gewesen wenn..

Hinweis: nie veröffentlichter Artikel, hier exklusiv für dich









 
 

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