Dass man auf einer „kulinarischen Reise“ durchaus 7000m und über 200 Höhenmeter in rund 60 Minuten zurücklegen kann, war ich mir bis zum heutigen Tag nicht bewusst gewesen. Leicht desorientiert stehen wir zu viert vor den rund zwei Dutzend Pferden, welche allesamt in einer einzigen Gemütlichkeit an ihrem Gespann in Reih und Glied vor uns stehen. Kein grosser Haupteingang, keine professionelle Reklame oder gar Leuchttafeln sind zu sehen. Büroakten, kopfzermürbende Bürokratie und langwierige Abwicklungsprozesse aus dem Alltag haben wir schon längst vergessen, als uns ein freundliches und braungebranntes Gesicht ohne grosse Formalitäten zu unserer Kutsche geleitet. Wir haben nicht mal eine E-Mailbestätigung, geschweige denn, eine Quittung für die Barbezahlung – ein Zeichen, das hier im Tal vor Pontresina, offenbar noch das Wort gilt und man ohne mit der Wimper zu zucken, einen Wildfremden einfach so in seinen „Wagen“ steigen lässt. Luigi heisst unser Kutschen-Führer. Kaum auf dem warmen Schafs-Fell Platz genommen, deckt er uns für die bevorstehende Reise mit Wolldecken und der obligaten Felldecke ein. Frieren auf den gut 2000 M.ü.M. und das Mitten im Winter, kein Thema. Schnell wird es wohlig warm unter den dicken Decken und nach ein paar fast beiläufigen Witzchen und einem kurzen Blick über die Schulter, setzt Luigi unsere zwei gut genährten und gepflegten Pferde in Gang. „Jedem sein Luigi!“, denk’ ich mir. Ein herrlich zufriedener Mensch, mit einem wahrscheinlich angeborenen Dauergrinsen auf dem Gesicht, eröffnet uns mit seinen 2 PS im Gespann eine ganz neue Welt der Bündner Berge.
So befinden wir uns mit unserer Privatkutsche innert nur wenigen Minuten mitten in einer bezaubernden Winterlandschaft, umgeben von nichts als Ruhe und Stille. Hie und da gleitet ein Langläufer beinah geräuschlos an uns vorbei, währenddem ich links und rechts die von Moos bewachsenen Nadelbäume bestaune. Eine malerische Märchenlandschaft erstreckt sich vor uns. Auf beiden Seiten ragen die steilen Bergwände des Tals wie Schutzwände empor, als wolle der tiefe Frieden dieses Idylls nicht gestört werden. Der Schnee knirscht leise unter den Hufen unserer stämmigen, aber zugleich majestätischen Rösser. Gefrorene Wasserfälle und die unzähligen Wildspuren im glitzernden Schnee, verleihen dieser einzigartigen Szenerie an weiterem Glanz. Ich lege meinen Kopf in den Nacken, atme die frische Luft tief ein und spüre die Wärme der starken Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht. Ob dieser Moment besser als jener in „Drei Nüsse für Aschenbrödel“ ist? Bestimmt. Neben uns her, fliesst ein sanftes Bächlein, dessen runde Steine voll und ganz mit Puderschnee bedeckt im Wasser liegen, als währen sie kleine Sahnehäubchen. Bei diesem Gedanken knurrt mir langsam nun der Magen. Ein leckeres Sahnehäubchen – ein kleiner Vorgeschmack von dem, was mich am Ende der romantischen Kutschenfahrt erwarten sollte. Tief im Val Roseg eingebettet, taucht plötzlich unvermittelt dieses schmucke Restaurant vor uns auf. Wer aber glaubt, beinahe am Ende der Welt für diesen besonderen Genuss der Abgeschiedenheit, ein Vermögen hinblättern zu müssen, der irrt. So hat sich die Wirtsfamilie mit ihrem Self-Service-Bereich gut gerüstet für alle Längläufer, Wanderer und andere Kurzbesucher des Restaurants. Für jene, die es gut und gerne etwas länger im sonnendurchfluteten Wintergarten mit Kaminfeuer oder auf der herrlichen Sonnenterrasse aushalten, gibt es natürlich auch à la carte. Auf keinen Fall verpassen, sollte man jedoch das wahre Sahnehäubchen des Ortes: das Dessertbuffet. Ein Paradies für Kuchen- und Crèmeliebhaber, erstreckt sich über mehrere Tische hinweg und lässt einem das Wasser im Mund wahrlich zusammenlaufen. Von Quark- über Früchtekuchen, von Panna Cotta über die Crème Brûlé, bis zum Apfelstrudel mit Vanillesauce gibt es praktisch nichts, was man da nicht einzeln oder, für besondere Schlemmermäuler, gar in der Mehrfachauswahl auswählen könnte. Ein Dessert-Gaumenschmaus der Sonderklasse, für den es sich lohnt den zweistündigen Verdauungsspaziergang zurück ins Dorf auf sich zu nehmen.
